There will come soft rains

Die multiple Krise
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Ulrich Brand

Der 2009 erschienene Text des Politikwissenschaftlers Ulrich Brand untersucht den Ursprung, die Dynamik und den Zusammenhang gegenwärtiger Krisenphänomene



Die Welt befindet sich in einer tiefgreifenden und multiplen Krise. Täglich erreichen uns neue Meldungen über Entlassungen, Betriebsschließungen und sich widersprechende Prognosen über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Hinzu kommen weitere Einsichten in die Dramatik des Klimawandels, die Erosion biologischer Vielfalt, die sich erschöpfenden fossilen Energieträger, den wachsenden Hunger in vielen Regionen und über zunehmende Migration, weil immer mehr Menschen in ihrer Heimat nicht mehr (über-)leben können. Wir erleben zudem eine Krise gesellschaftlicher Integration durch soziale Spaltungen sowie eine Krise der Repräsentation und Willensbildung, da immer mehr Menschen dem politischen System nicht mehr zutrauen, die relevanten Probleme auch wirklich zu bearbeiten und sich mit ihren Anliegen kaum mehr vertreten sehen.

Die Komplexität der Probleme und Krisendynamiken führt tendenziell zu einer Überforderung. Das ist nicht nur in der Öffentlichkeit und bei „normalen Menschen“ der Fall, sondern auch bei politischen und ökonomischen EntscheidungsträgerInnen. Dies mag ein Grund sein, warum derzeit vor allem nur die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise im Zentrum der Diskussionen und politischen Krisenregulierungen steht. Die hauptsächliche Ursache für die einseitige Thematisierung dürfte aber darin liegen: Die politischen und ökonomischen Eliten neigen zu Politiken, die entweder zuvorderst ihren Interessen oder denen der sie stützenden Interessengruppen dienen . Das zeigte sich im vergangenen Jahr am Charakter der Bankenrettungspakete oder kürzlich an der letztendlich doch geringen Einschränkung des Kapitalverkehrs. Das Treffen der G20 in Pittsburgh etwa brachte eher unverbindliche Ergebnisse und lässt eine Regulierung der Finanzmärkte in nächster Zeit nicht erwarten. Oder die Eliten beschränken sich auf symbolische Politiken wie im Hinblick auf die ökologische Krise. Zusammenhänge mit anderen Krisendimensionen werden kaum gesehen, geschweige denn als politisch relevant empfunden.

Wenn es aber zu einem angemessenen Umgang mit der vielfältigen Krise kommen soll und dies insbesondere im Sinne progressiver gesellschaftlicher Veränderungen, dann muss der Zusammenhang der unterschiedlichen Krisendynamiken verstanden werden.*1 Das ist das Ziel dieses Dossiers. Nach einer kurzen Skizze der dominanten Krisendeutung wird ein alternatives Verständnis entwickelt, um dann auf Aspekte möglicher Entwicklungen einzugehen und abschließend exemplarisch Lösungsansätze sowie geeignete Rahmenbedingungen zu nennen. Gemäß der Aufgabenstellung der Heinrich-Böll-Stiftung konzentriere ich mich besonders auf die politisch-institutionelle Ebene.*2

Die grundlegende These lautet: Der innere Zusammenhang der vielfältigen Krise liegt in der fossilistisch-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die in den letzten dreißig Jahren unter neoliberalen und imperialen Vorzeichen umgebaut wurde. Damit wurden auch die politischen und gesellschaftlichen Institutionen verändert, um die neoliberal-imperiale Ordnung abzusichern. Der Staat des „Finanzmarktkapitalismus“ ist heute ein „nationaler Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch) dessen Hauptorientierung – trotz aller Differenzen in den einzelnen Politikfeldern – die Herstellung internationaler Wettbewerbsfähigkeit ist. Das gilt selbst für die Europäische Union, in der sich die unbedingte Wettbewerbsorientierung im Vertrag von Lissabon ausdrückt. Auch auf internationaler Ebene – paradigmatisch ist die WTO – geht es um die politisch-institutionelle Absicherung des neoliberalen Wettbewerbsimperativs. Die politischen Institutionen sind daher derzeit gar nicht dafür gewappnet, den dominanten Entwicklungen etwas entgegen zu stellen. Sie sichern letztere vielmehr ab. Zudem geht mit der Wettbewerbsorientierung eine Aushöhlung demokratischer Strukturen und Prozesse einher sowie – allen Partizipations- und Governance-Angeboten zum Trotz – eine Zunahme autoritärerer Formen von Politik. Letztere zeigt sich an der Aufwertung der Exekutiven und der Schwächung der Parlamente, aber auch in den Wahlerfolgen personenbezogener und tendenziell populistischer politischer Gruppierungen; beispielsweise in Frankreich um Sarkozy, in Italien um Berlusconi, in Russland um Putin.

Die aktuell dominanten Deutungen und Politiken sind eng mit dem Interesse an der Aufrechterhaltung der existierenden Herrschaftsverhältnisse, der dominanten Lebensweise oder einer allenfalls graduellen Umstellung verbunden. Die progressiven gesellschaftlichen Kräfte und Orientierungen sind gegenwärtig zu schwach oder – beispielsweise wie große Teile der Gewerkschaften – nicht Willens, um das zu thematisieren und eine entsprechende Politik voran zu treiben. Dies ist der Rahmen, innerhalb dessen Lösungsansätze gegenwärtig entwickelt werden. Und dieser Rahmen bedarf der Veränderung.

 

1. Dominante Krisendeutungen und Krisenpolitiken

Gesellschaftliche Diskussionen über Krisen und deren Bearbeitungsformen sind keineswegs neutral, sondern eng verbunden mit sozialen Machtverhältnissen. Dies gilt auch für die dominante Krisendeutung, welche verallgemeinernd gesprochen lautet, dass der Grund der Krise in den unregulierten Finanzmärkten und vor Allem in den unkontrollierten – mitunter als gierig bezeichneten - Finanzmarktmanagern liegt. Als Anlass werden besonders die Hypothekenkrise in den USA und dann der Zusammenbruch der Bank „Lehmann Brothers“ genannt. Damit sei eine kaum kontrollierbare Spirale in Gang gekommen, die nun auf die Realwirtschaft übergreife. Das Wort „Kapitalismus“ hat derzeit Konjunktur und meint vor allem diesen Zusammenhang. Der Staat soll nach erfolgter Bankenrettung nun in zweierlei Richtung aktiv werden:*3 Zum Einen die unkontrollierten Finanzmärkte stärker regulieren und zum Anderen mit Konjunkturprogrammen die Krise entschärfen und einen neuen Wachstumszyklus ermöglichen. Seit Sommer 2009 kommt es zu einer Erweiterung dieser Deutung: Die ersten und zarten Anzeichen wirtschaftlicher Erholung – insbesondere in den Exportsektoren – verstärkten eine Deutung, dass es sich nicht um eine Strukturkrise, sondern um eine Konjunkturkrise handle und es hoffentlich 2010 wieder aufwärts gehe. Als anderer Indikator gelten die wieder starken Gewinne einiger Banken wie Goldman Sachs oder der Deutschen Bank, die übrigens auch aus der krisenbedingten Staatsverschuldung stammen. Die aktuell gute Stimmung im Bankensektor hat sicherlich einen polit-psychologischen Hintergrund: Es sei ja alles gar nicht so schlimm, hohe Bankengewinne seien gut für alle und starke Regulierungen führen zu Wohlstandsverlusten.*4

Soweit zur dominanten Krisendeutung. Die dominanten Krisenpolitiken können überwiegend als stabilisierend und strukturkonservativ bezeichnet werden. Der Bankensektor ist im Herbst 2008 rasch und mit sehr viel Geld vom Staat gestützt worden (teilweise einhergehend mit Eigentumsanteilen des Staates). Zudem kam es zu (mit sehr viel weniger Geld ausgestatteten) Konjunkturpaketen. Die Staatsinterventionen werden zwar vielfach keynesianisch genannt (in Absetzung von der neoliberalen Ideologie sich selbst regulierender Märkte) was in der Realität nie stimmte. Es handelte sich allenfalls um einen „halbierten“ Keynesianismus, nämlich um staatliche Kriseninterventionen. Doch neben strikten Kapitalverkehrskontrollen und stabilen Wechselkursen plädiert eine keynesianische Politik auch für die Anhebung von Lohneinkommen in Krisenzeiten (und zwar über ad hoc-Maßnahmen wie die Abwrackprämie hinaus). Doch das wird insbesondere in den exportorientierten westlichen Ländern vermieden, in denen „Lohnzurückhaltung“ Teil des Exporterfolgs ist. Die neoliberale Orientierung an einer Umverteilung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben und die damit zusammenhängenden Kräfteverhältnisse werden bislang nicht infrage gestellt (vgl. auch Candeias/Rilling 2009, Brand 2009a).*5

Interessant an den Deutungen und Politiken ist erstens, dass sie sich bei den Ursachen fast ausschließlich auf die Finanzkrise beziehen und andere Wirtschaftssektoren – etwa die Fehlproduktion in der Automobilindustrie – nicht als eigenständige Krisenmomente sehen. Allenfalls werden noch weltwirtschaftliche Ungleichgewichte genannt (hohe Importüberschüsse der USA, Exportüberschüsse vor allem Deutschlands und Chinas; Onaran 2009, Wade 2009: 542f.). Bei den Formen der Krisenbearbeitung gibt es daher eine klare Hierarchie. Die Wiedergewinnung von wirtschaftlichem Wachstum und Gewinnen steht im Zentrum und damit verknüpft geht es um den Erhalt von Arbeitsplätzen (gleich welcher Qualität). Zudem erleben wir einen wirtschaftlichen Konzentrationsprozess in einigen Branchen (vor allem in der Automobilindustrie), wobei nationale Krisenpolitiken darauf ausgerichtet sind, dass die „eigenen“ Unternehmen die Krise überstehen oder sogar gestärkt aus ihr hervorgehen. Zweitens wird, wie gesagt, von den meisten Diagnosen und Politiken davon ausgegangen, dass es sich weitgehend um eine konjunkturelle und keine strukturelle Krise handelt, die im Jahr 2010 oder 2011 mehr oder weniger überwunden sein dürfte. Drittens wird die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise meist getrennt von anderen Krisen gesehen. Die Zusammenhänge werden auch in der praktischen Krisenpolitik auseinander gerissen. So spielen beispielsweise bei den Rettungspaketen für Automobilunternehmen die ökologischen Implikationen kaum eine Rolle. Dass die Krise als Chance zu einem Umbau der Automobilindustrie genutzt werden könnte, gerät nicht in den Blick. Die Energiekrise soll mit der Ausweitung des Anbaus von Agrar-Treibstoffen bearbeitet werden, was jedoch enorme soziale und ökologische Konsequenzen in Ländern wie Indonesien oder Brasilien hat.*6 Die Vorschläge zu einer Transformation der energetischen Basis oder der Mobilität weg vom Automobil bleiben eher am Rande. Kaum thematisiert wird, dass der Trend der Privatisierungen und Liberalisierung in vielen Bereichen – mit Ausnahme der Finanzmärkte – weitergehen dürfte. Auch die geschlechterpolitischen Implikationen – bei der Krisenverursachung wie auch bei den Auswirkungen – spielen kaum eine Rolle: Dass die Krise weitgehend von Männern bzw. einem männlichen, einseitig an Markt, Macht und Erfolg orientierten und wenig auf die gesellschaftlichen Reproduktionsgrundlagen achtenden Handlungstypus verursacht wurde und nun bearbeitet wird, bleibt unthematisiert (Young 2009a, Wichterich 2009).

Viertens – und hier besteht eine deutliche Differenz zwischen herrschender Deutung und realen Entwicklungen - wird der Staat in den aktuellen Krisen weitgehend als „Retter“ gesehen und kaum jemand fragt, ob und wie staatliche Politik zur Verursachung der Krisen beigetragen hat. Die existierenden politischen Institutionen und Instrumente scheinen grundsätzlich geeignet zur Bearbeitung der Krisen. Schließlich: Es scheint bislang wenig progressive Antworten in der aktuellen Krise zu geben. Die Massivität der Krise und die enormen Summen der staatlichen Rettungspakete lassen wenig Spielraum für Vorschläge, die jenseits von Stabilisierung und Hoffnung auf ein „Anspringen des Wachstumsmotors“ liegen. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass auch die Gewerkschaften und die meisten Parteien die dominanten Krisendeutungen teilen.

In den dominanten Deutungen kommt kaum vor (bzw. es wird mit dem Begriff der „Globalisierung“ verschleiert), dass die aktuelle Krise sich vor dem Hintergrund eines seit drei Jahrzehnten andauernden Umbaus des Kapitalismus unter neoliberalen und imperialen Vorzeichen vollzieht. Und es wird angesichts der drängenden Probleme kaum gesehen, dass wir es durch die Erschöpfung natürlicher Ressourcen möglicherweise mit einem Zivilisationsbruch zu tun haben könnten, der in eine sehr autoritäre und konfliktreiche Richtung gehen könnte – aber auch in eine progressiven Umstellung der Energie-, Produktions- und Lebensweise.

Wir benötigen daher eine alternative Krisendeutung. Diese ist Ende 2009 von großer Unsicherheit geprägt, dennoch sind solche Deutungen Teil der aktuellen politischen Auseinandersetzungen.


2. Multiple Krisen: Eine alternative Krisendeutung

Eine zentrale Aufgabe kritischer Analyse und progressiver Politik liegt darin, den inneren Zusammenhang der Krisen zu entschlüsseln und daraus gesellschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen. In Absetzung von den dominanten Krisendeutungen sind folgende Dimensionen wichtig:

  • die multiplen Krisen sind in ihrer gegenwärtigen Dynamik Resultat eines neoliberalen und imperialen Umbaus des Kapitalismus, der auch Politikfelder wie die Umwelt- oder Landwirtschaftspolitik betrifft;

  • die multiplen Krisen sind in ihren spezifischen Dimensionen Ausdruck der offenbar mit den bestehenden Instrumenten nicht mehr bearbeitbaren Widersprüche des neoliberal-imperialen und globalisierten Kapitalismus; eine Krisendimension ist daher politisch-institutionell. Die zunehmenden Instabilitäten führten nicht nur zur Übertragung der Krise von einigen wenigen Ländern auf andere und von den Finanzmärkten auf andere Wirtschaftssektoren, sondern beeinflussen auch weitere Dynamiken wie etwa den Landwirtschaftssektor und die dortigen Produktions- und Preisentwicklungen;

  • sie sind Ausdruck von tief in den Gesellschaften verankerten Produktions- und Lebensweisen, die sozial spaltend und Natur zerstörend sind;

  • die verschiedenen Krisendimensionen zeichnen sich durch eine starke Ungleichzeitigkeit aus: in den Bereichen Klima und Energie handelt es sich auch um eine Krise der seit 200 Jahren entwickelten industriellen Zivilisation, in anderen Bereichen um eine Strukturkrise der vor etwa 30 Jahren begonnenen neoliberal-imperialen Globalisierung. Doch wir wissen heute nicht, ob es sich bei der Wirtschafts- und Finanzkrise eventuell doch „nur“ um eine Konjunkturkrise handelt; allerdings sollte man aus kritisch-emanzipatorischer Sicht nicht von einer Konjunkturkrise ausgehen, da damit eben die multiplen Dimensionen überdeckt werden und es wahrscheinlich ist, dass die erfolgreiche Bearbeitung einer wirtschaftlichen Konjunkturkrise zu Lasten sozialer Gerechtigkeit und sozial-ökologischer Aspekte geht (Stichwort: strukturkonservative Krisenbearbeitung, s.o.).


Wirtschafts- und Finanzmarktkrise

Zur gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzmarktkrise ist viel diskutiert und geschrieben worden und das wird – angesichts ihrer Dynamik und der unzureichenden Krisenpolitiken – weiterhin der Fall sein (vgl. als Auswahl, auf die ich mich beziehe, Huffschmid 2002, Young 2009b, Bischoff 2008, Onaran 2009, Altvater 2009a, Sablowski 2009, Evans 2008, Becker/Jäger 2009, instruktive Analysen in Cambridge Journal of Economics 2009). In der kritischen Debatte wird sehr stark der Begriff des „Finanzmarktkapitalismus“ verwendet, um die „postfordistische“ Konstellation genauer zu begreifen, die nun in die Krise geraten ist. Fünf Dimensionen sind wichtig: Durch die verstärkte Internationalisierung des Kapitals seit den 1970er Jahren und später durch den Aufstieg von Schwellenländern wie China kommt es zu größeren wirtschaftlichen Ungleichgewichten zwischen den Nationalökonomien und zu einem Anpassungsdruck jener Länder, die Leistungsbilanzdefizite aufweisen. Sie müssen zum Ausgleich des Defizits Kapital zu relativ höheren Zinsen importieren (die USA ist hier die Ausnahme, da der US-Dollar das „Weltgeld“ ist). Zweitens kommt es zu einer Restrukturierung des Arbeitsprozesses hin zu mehr Flexibilisierung und Prekarisierung sowie zur Integration von hunderten von Millionen neuer Arbeitskräfte in den Weltarbeitsmarkt. Das erhöht die Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander, schwächt sie und ist ein Grund für die Umverteilung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben. Der wachsende Reichtum eines kleinen Teils der Bevölkerung wird weniger durch Konsum ausgegeben, sondern eher auf den Finanzmärkten angelegt.*7 Drittens kam es seit den 1970er Jahren (mit Vorläufern in den 1950er Jahren) zu einer Deregulierung der Finanzmärkte, die deren starkes Wachstum überhaupt ermöglichte. Dies ging einher mit dem Ende des Systems fester Wechselkurse zu Beginn der 1970er Jahre, weshalb international tätige Unternehmen sich zunehmend mit sog. Derivaten gegen Wechselkursrisiken absicherten. Diese Absicherungsgeschäfte wurden aber auch spekulativ eingesetzt. Viertens führte die Privatisierung der Rentenversicherung, d.h. der zunehmenden Umstellung vom Umlageprinzip auf die Kapitaldeckung dazu, dass immer mehr Geld auf Jahrzehnte angelegt werden musste. Und fünftens boten sich alte und neue Akteure, institutionelle Investoren wie Versicherungen, Pensions- oder Investmentfonds, als Finanzdienstleister an, um das nach Anlagen suchende Geld zu vermehren. Sie waren seit den 1990er Jahren die Hauptakteure der Produktinnovationen an den Finanzmärkten wie etwa die Risikoaufteilung durch Verbriefung (forderungsbesicherte Wertpapiere, sog. „asset backed securities“) von Krediten, die teilweise wieder aufgeteilt (tranchiert) wurden und mit anderen Wertpapieren zu einem neuen Kreditderivat gemacht werden konnten.

Diese Faktoren führten zu einem enormen Wachstum der Finanzmärkte, d.h. zu vermehrt nach profitablen Anlagen suchendem Kapital, und zu zunehmender Instabilität. Seit einigen Jahren waren es verstärkt Immobilien in den USA, wo ein regelrechter Boom durch günstige und oft wenig besicherte Kredite ausgelöst wurde. Doch die Kreditvermehrung kann ins Stocken geraten, d.h. es kann zu Entwertung von Kapital kommen. Unterschiedliche „bubbles“ seit den 1990er Jahren gab es immer wieder – wie etwa die Krise der New Economy ab 2000 oder der Hypothekenkrise ab 2007/2008. Dazu kam und kommt eine Krise der gesamtgesellschaftlichen Fehlproduktion, die sich als Überproduktion in verschiedenen Sektoren, insbesondere in der Automobilindustrie, äußert.*8

Wie tief die aktuelle Krise sich entwickeln wird, ist derzeit offen (im Unterschied zur Krise 1929 erleben wir derzeit aber noch keine Währungskrise). Und auch die Wirkungen der Krisenpolitiken sind noch unklar. Die konkreten Maßnahmen wie die Verteilung der Folgekosten der aktuellen Kriseninterventionen sind und werden Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen werden.

Robert Wade (2009) stellte kürzlich die Frage, ob es sich bei den aktuellen Krisenpolitiken um solche wie nach 1945 handelt - also eine allgemeine Umorientierung des liberalen auf einen koordinierten Kapitalismus mit mehr keynesianischen Politiken, Steuererhöhungen, starken Finanzmarktregulierungen und der Verstaatlichung von Schlüsselbranchen – oder eine Krisenregulierung à la 1999, wo angesichts der Finanzkrisen zwar weitreichende Änderungen gefordert wurden, diese aber nicht umgesetzt wurden als deutlich wurde, dass die Krise nicht die kapitalistischen Zentren erreichen wird. Es blieb bei inkrementellen Schritten wie die Einrichtung des Financial Stability Forum. Für Wade hängen die eingeschlagenen Politiken zentral mit der Tiefe der Krise zusammen, meines Erachtens geht es aber auch um die erreichten Veränderungen der Kräfteverhältnisse und hegemonialer Orientierungen.


Sozial-ökologische, Energie- und Ernährungskrise

Die ökologische Krise wird zwar vielfach als Krise der Tragfähigkeit oder der Übernutzung natürlicher Ressourcen und Senken thematisiert. Es handelt sich jedoch um eine sozial-ökologische Krise in dem Sinne, dass die gesellschaftlichen Formen der Naturaneignung krisenhaft sind: Die Produktions- und Lebensweise, die damit verbundenen politischen Verhältnisse und ein auf Ressourcenausbeutung basierender Weltmarkt, auf dem sich die reichen Länder die Ressourceninputs organisieren (mitunter geschieht das auch mit offener Gewalt und Kriegen, doch es dominiert die ökonomische Form der Ausbeutung). Die sozial-ökologische Krise hat Implikationen für weltweite und innergesellschaftliche Verhältnisse. Die verwundbareren Regionen und Bevölkerungsgruppen sind eher vom Klimawandel betroffen, die Preisanstiege bei Nahrungsmitteln treffen zuerst jene, die ohnehin über nur sehr geringe Kaufkraft verfügen. Die Umnutzung von Land für die Produktion von Agrardiesel oder Agrarethanol führt zu Konflikten zwischen der meist schwächeren lokalen Bevölkerung und mächtigen politischen und ökonomischen Akteuren, die von außerhalb kommen (vgl. etwa Hoering 2009). Die Energiekrise war seit den 1970er Jahren politisiert, dennoch nahm der Verbrauch an fossilen Energieträgern – trotz Effizienzsteigerungen und Ausbau der Photovoltaik - stetig zu und hat sich seit 1980 fast verdoppelt. In jüngster Zeit kommt es neben einer Renaissance der Kernenergie zum verstärkten Anbau von Agrartreibstoffen.

Seit der Rio-Konferenz 1992 wurde ein internationales Institutionensystem aufgebaut, um dramatische Krisen wie den Klimawandel oder die Erosion der biologischen Vielfalt international koordiniert anzugehen und auf nationaler wie lokaler Ebene umzusetzen. Bei allen Erfolgen im Einzelnen nahmen etwa die Emissionen von Treibhausgasen seit 1990 um 40 Prozent zu. Die bereits länger anhaltende Ernährungskrise und insbesondere die jüngsten Krisen in vielen Ländern und Regionen durch die hohen Nahrungsmittelpreise sind weniger Ausdruck von schwachen Ernten und leeren Lagerhallen, als vielmehr von Spekulationen (Frank 2009, Wahl 2009).

Die Instrumente zur Krisenbearbeitung waren – dem neoliberalen Zeitgeist der 1990er Jahre entsprechend – stark marktförmig ausgerichtet. Die internationale Politik sollte einen Rahmen schaffen für Emissionshandel oder im Bereich der biologischen Vielfalt zum Schutz, zum Zugang zu genetischen Ressourcen und zu einem gerechten Vorteilsausgleich. Doch in den letzten Jahren wird immer deutlicher, dass die Implementierung der vereinbarten Politiken nicht effektiv ist. Die Märkte sind eben nicht nur Allokationsmechanismen, sondern sie sind hochgradig vermachtet und zum gegenwärtigen Stand sind die kostenlos an die Energieunternehmen abgegebenen Emissionszertifikate „Gelddruckmaschinen“ (Brouns/Witt 2008), ökonomische Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten scheint immer noch zu überwiegen (Altvater/Brunnengräber 2008, Brunnengräber et al. 2008).

Gleichzeitig haben die dominierenden Formen der (internationalen) Umweltpolitik erhebliche Verteilungswirkungen hinsichtlich der Umweltnutzung und der Lastenaufteilung. Arme Bevölkerungsgruppen sind meist von Ressourcenknappheit, schädlichen Emissionen und Zugangsbeschränkungen zu Lebensmitteln stärker betroffen als andere Gruppen.

Die Dynamik der ökologischen Krise ist tief verankert im kapitalistischen Industrialismus. Im Globalisierungsprozess und der damit einhergehenden Liberalisierung des Handels, der Privatisierung vieler natürlicher Gemeingüter, aber auch im Aufstieg der Schwellenländer und dem damit verbundenen Wohlstand für die neuen Mittelschichten hat die ökologische Krise sich verschärft. Die Formen der Krisenbearbeitung sind in vielen Bereichen eng verbunden mit neoliberalen Politiken des Naturschutzes durch die Vermarktung der Natur. Zudem scheinen die international verabredeten Instrumente nicht zu greifen.


Globale soziale Spaltungen - erzwungene Migration - offene Gewalt

Die neoliberale und imperiale Globalisierung hat in den Gesellschaften des globalen Nordens insgesamt zu wirtschaftlichem Wachstum und gleichzeitig zu einer stärkeren Polarisierung geführt. Die Lohnquote ging in allen Ländern zurück, bei gleichzeitigem Rückgang des Durchschnittseinkommens. Die Krise hat sehr unterschiedliche Auswirkungen auf spezifische Bevölkerungsgruppen. So wurden die risikoreichen sub-prime Hypotheken-Kredite viel stärker an Menschen mit niedrigem Einkommen und insbesondere an AfroamerikanerInnen vergeben, die damit ihren Lebensstandard in Zeiten abnehmender Sozialstaatlichkeit sichern wollten, dann aber von der Krise stärkstens betroffen waren. Es wird geschätzt, dass zehn Prozent afro- und latinoamerikansicher, kreditverschuldeter HausbesitzerInnen von Zwangsversteigerungen betroffen sein werden gegenüber vier Prozent der „weißen“ Bevölkerung (Oliver/Shapiro 2008).

In einigen weltwirtschaftlich sehr relevanten semi-peripheren Ländern wie China oder Indien hat sich durch enormes und weltmarktorientiertes Wachstum eine starke Mittelschicht herausgebildet. In vielen Ländern des globalen Südens fand gesellschaftliche Polarisierung und Verarmung ebenfalls statt –hier besonders durch die sog. Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank. Spätestens seit den Währungs- und Wirtschaftskrisen Mitte der 1990er Jahre haben sich die Hoffnungen auf einen „Durchsickereffekt“ der Globalisierung auf die ärmsten Bevölkerungsschichten insgesamt nicht erfüllt. Und dort, wo Verteilungspolitiken auf die untersten Einkommensschichten positive Auswirkungen hatten (etwa in Brasilien mit der Regierung der Arbeiterpartei ab 2002), geschah dies mit massiven staatlichen Politiken und um den Preis einer enormen Vernutzung natürlicher Ressourcen, die auf dem Weltmarkt verkauft wurden.

Wichtige Entwicklungen werden in der aktuellen Krisendebatte ignoriert. Exemplarisch steht hier die Verarmung von immer mehr Menschen, was sie zu einer erzwungenen Migration in die reicheren Länder treibt, wo sie sich – zumal wenn ihr rechtlicher Status unsicher ist - meist unter prekären und schlecht bezahlten Verhältnissen verdingen. Diese Lohnarbeitsverhältnisse waren und sind integraler Bestandteil ökonomischer „Produktivität“. Die zunehmende erzwungene Migration ist aber Ausdruck der Krise neoliberaler Globalisierung in den Herkunftsländern. In der Wirtschaftskrise geraten illegalisierte Menschen mit Migrationshintergrund stärker unter Druck als Menschen mit gesicherten Aufenthaltsstatus.

Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem neoliberal-imperialen Charakter der Neuen Weltordnung, in der es neben der „unsichtbaren Hand des Marktes“ auch die „eiserne Faust“ der mächtigen Staaten gibt. In Krisenzeiten bestehen Tendenzen, dass nicht nur autoritäre, sondern auch offen-gewaltförmige Formen der Krisenbearbeitung zunehmen. Zudem forlmulieren zentrale militärische Akteure wie die NATO explizit, dass es um die aktive Verteidigung der nordwestlichen Gesellschaften und ihrer Lebensweise geht (Wagner 2008).


Krise der Geschlechterverhältnisse und hegemonialer Männlichkeit

Die Architektur des Finanzmarktkapitalismus wie auch die Auswirkungen seiner Krise haben geschlechtsspezifische Implikationen (Walby 2009). Das gilt auch für andere Dimensionen der multiplen Krise. Ein feministischer Blick unterstreicht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und den Zugriff auf Ressourcen des neoliberalen Kapitalismus, dessen Wertschöpfung nicht nur in der formalen, auf Lohnarbeit basierenden Ökonomie liegt, sondern neben den natürlichen Ressourcen und Senken auch auf der unbezahlten Sorgearbeit und sozialer Sicherung, die größtenteils von Frauen geleistet wird (Young 2009a). Im Zuge des Rückbaus sozialer Sicherungssysteme werden diese unbezahlten Arbeiten wichtiger – vor allem in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit. Christa Wichterich (2009) spricht von „sozialen Air-Bag-Leistungen“ in Zeiten der Krise, die noch mal wichtiger werden, wenn eine neue Runde staatlicher Ausgabenkürzungen sowie Druck auf Löhne ansteht.


Krise sozialer Integration und politischer Institutionen

Der Nachkriegskapitalismus – häufig als Fordismus bezeichnet – der 1950er bis 1970er Jahre wird häufig verklärt als stabile und prosperierende Phase, als Höhepunkt eines „sozialdemokratischen Zeitalters“. Dass es auch hier Konflikte gab, etwa im Zuge der Entkolonialisierung oder der BürgerInnenrechtsbewegung gegen rassistische Diskriminierung, wird teilweise vergessen. Dennoch ist eine Erfahrung wichtig: In einigen Teilen der Welt waren große Teile der Bevölkerung – als Lohnabhängige, nicht unbedingt als Frauen oder Menschen anderer Herkunft und Hautfarbe - mehr oder weniger in die Gesellschaft integriert, im Sinne, dass ihre Interessen repräsentiert waren. Sie produzierten nicht nur den Wohlstand, sondern hatten auch Anteil an seiner Verteilung. Das gilt auch für viele Länder des globalen Südens, in denen sich eine Art „peripherer Fordismus“ herausgebildet hatte, in dem Teile der Mittelschichten sozial aufsteigen konnten. Die vielfältigen Formen der politischen, ökonomischen und sozialen Beteiligung waren hart erkämpft worden und äußerten sich in stetig steigenden Löhnen, im Wohlfahrtsstaat, in Elementen der Wirtschaftsdemokratie, in einer Bildungsexpansion ungekannten Ausmaßes. Das hatte durchaus seinen Preis, insofern das fossilistische Modell der Massenproduktion und des Massenkonsums zwar Wohlstand schaffte, aber die eben zu Lasten der Reproduktionsfähigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen ging. Auch die Festschreibung eines männlichen Familienernährermodells war aus einer geschlechterkritischen Perspektive wenig emanzipatorisch.

Diese Ambivalenz – der Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten wurde „erkauft“ durch asymmetrische Klassenverhältnisse, eine Disziplinierung der Gesellschaft, patriarchale Geschlechterverhältnisse und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen – politisierten soziale Bewegungen in den 1970er Jahren in vielen Ländern. Gleichwohl gewannen in den 1980er Jahren nicht libertäre und emanzipatorische Perspektiven die Oberhand, sondern das neoliberale Entwicklungsmodell. Dies ging einher mit Flexibilisierung und zunehmender Unsicherheit, Deregulierung im Interesse ökonomisch und politisch mächtiger Akteure, Privatisierung, Entdemokratisierung (trotz vermehrter Partizipation in einzelnen Bereichen), eine intensivere Ressourcennutzung u.a. Diese Prozesse erzeugten eine Krise sozialer Integration und ein politisch gewollter Rückbau staatlicher Instrumente, die ggf. gegen mächtige Interessen eingesetzt werden könnten. Die Krise der politischen Institutionen ist in der aktuellen Debatte – im Gegensatz zu den 1990er Jahren – überhaupt kein Thema. Es wird so getan, als wenn der Staat grundsätzlich in der Lage wäre, gesellschaftliche Interessen angemessen zu repräsentieren und Problemlagen adäquat zu bearbeiten. Dabei handelt es sich jedoch eher um das Selbstbild der Eliten denn um die Erfahrungen und Wahrnehmung der Bevölkerung. Die nachlassende Wahlbeteiligung, das Aufkommen eines rechten und rechtsradikalen Populismus und – das Thema des Dossiers – die Krise selbst sowie ihre unzureichende Bearbeitung sind Indikatoren einer Krise politischer Repräsentation bzw. der etablierten politischen Institutionen selbst.

Die Probleme politischer Institutionen drücken sich noch gravierender in vielen Ländern des globalen Südens aus, in denen tendenziell ineffiziente Staaten durch die Strukturanpassungsprogramme weiter geschwächt wurden. Die Rückbesinnung auf effektive politische Strukturen ist entsprechend der Kern der Debatte und Strategien von Good Governance, um externe Mittelzuflüsse im Rahmen von Budgethilfe auch sinnvoll zu nutzen.


3. Zum Zusammenhang der Krisendimensionen

Ob die akute Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise mit den etablierten politischen Instrumenten der Krisenbearbeitung erfolgreich überwunden werden kann, ist im Oktober 2009 eine offene Frage. Die meisten politischen Akteure gehen offenbar davon aus, die ökonomischen Akteure erhoffen es und die Medien spielen mit. Selbst aus einer progressiven Perspektive ist die Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse wichtig, denn von der Krise stärker betroffen sind tendenziell die schwächeren Teile der Bevölkerung. Doch dies geschieht, wie gesagt, um den Preis unzureichender effektiver Krisenpolitiken.

Aus progressiver politischer Perspektive sind Krisen zudem immer ambivalent: Zum einen verschärfen sie in der Regel bestehende Ungerechtigkeiten. Auf der anderen Seite stellen Krisen immer auch offene Situationen dar, in denen Selbstverständlichkeiten und politische, ökonomische, kulturelle und sozial-ökologische Herrschaftsverhältnisse infrage gestellt werden können. Das hängt nicht nur von kritischen Beiträgen zur öffentlichen Diskussion, geeigneten Vorschlägen und Strategien ab, sondern auch von den Sichtweisen, Strategien und der Diskursmacht jener Akteure, die sich gegen Veränderungen stellen, sowie von den in die gesellschaftlichen und politischen Institutionen eingelassenen Selektivitäten.

Voraussetzung für geeignete Strategien ist m.E. den skizzierten Zusammenhang der Krisendimensionen – und hier sind insbesondere die sozial-ökologische Krise wie auch die Verarmung von immer mehr Menschen im Globalen Süden zu nennen – zu sehen, zu verstehen und politisch damit umzugehen. (Den inneren Zusammenhang der multiplen Krisen zu ergründen bedeutet nicht, räumliche und zeitliche Differenzen zu negieren.)

Die gegenwärtigen Formen der Krisenbearbeitung hängen eng mit den Veränderungen der letzten dreißig Jahre zusammen. Diese wurden von den lokalen, nationalen und internationalen politischen Institutionen vorangetrieben, auch wenn dies unterschiedlich geschah. Die nordwestlichen Staaten, die EU als eigenständiger Akteur und starke internationale Organisationen wie die OECD, die Welthandelsorganisation, der Währungsfonds oder die Weltbank haben – gemeinsam mit den großen Finanz- und Industrieunternehmen und ihren Denkfabriken – zur neoliberal-imperialen Restrukturierung beigetragen.

Insgesamt gibt es in vielen Bereichen auf der politisch-strategischen Ebene bis dato keinen Bruch mit dem neoliberalen und imperialen Paradigma. Die entsprechenden Kräfteverhältnisse bestehen weiterhin. In einigen Bereichen – wie bei der Finanzmarktregulierung – könnten sich Neuerungen ergeben, in anderen nicht; der Druck auf die Löhne wird zunehmen, Privatisierungen werden vorangetrieben werden. Diese Diskussion um Kontinuitäten und Brüche des neoliberalen Paradigmas kann unter dem Begriff des „Postneoliberalismus“ geführt werden. Zentral ist jedoch: Die Tiefe und Vielgestaltigkeit der Krise kann mit business-as-usual nicht bearbeitet werden. Wenn solche Strategien weiter aufrecht erhalten werden, sie aber nicht wirken, kommt es zu weiterer sozialer Spaltung in den meisten Gesellschaften und international zu einer Verschärfung der sozial-ökologischen Krise, zu einer Zunahme von ruinöser Konkurrenz und zu wachsenden autoritären Tendenzen. Eine weitere De-Thematisierung geschlechterpolitischer oder migrationspolitischer Implikationen der multiplen Krise wird – zusammen mit den anderen Faktoren – gesellschaftliche Integrationsfähigkeit weiterhin schwächen sowie Unmut und Protest erhöhen.


4. Angemessene politische Entscheidungs- und Umsetzungsstrukturen, Umbau von politischen Institutionen

Die Analyse der Zusammenhänge und Wechselwirkungen ist Voraussetzung, um einigermaßen kohärente Formen progressiver Krisenbearbeitung zu entwickeln. Letztere implizieren Formen der Krisenbearbeitung die demokratisch, (auch international) gerecht, nicht zu Lasten anderer Regionen oder zukünftiger Generationen gehend, Pluralität zulassend und fördernd, ökonomisch produktiv und nicht Natur zerstörend sind. Solche Prinzipien gelten jedoch nicht nur „in“ der Krise, sondern auch dann, wenn diese gegebenenfalls überwunden ist. Kohärenz existiert hier im Sinne von Politiken und gesellschaftlicher Veränderungen, die nicht zur Verschärfung anderer Problembereiche führen. Sie muss sich in den kommenden Monaten und Jahren erst herstellen. In diesem Dossier sollen diesbezüglich einige zentrale Bedingungen genannt werden.

Ein derzeit breit diskutierter Vorschlag zur Herstellung von Kohärenz ist der „Green New Deal“ (GND). Die Strategie des GND setzt an der multiplen Krise an und will die technologischen und ökonomischen Potenziale ökologischer Modernisierung dadurch stärker nutzen, dass der Staat einen geeigneten Ordnungsrahmen und Anreize bereit stellt. Es geht um eine Redynamisierung und partielle, nämlich ökologische Neuausrichtung des Kapitalismus (vgl. etwa European Green Party 2008, Green New Deal Group 2008, UNEP 2008). Kritisiert werden die steuerungs- und technikoptimistischen sowie modernisierungstheoretischen Annahmen und die Ausblendungen aktueller kapitalistischer Entwicklungs- und Krisendynamiken sowie der fest verankerten imperialen Lebensweise (Passadakis/Müller 2009, Brand 2009b). Trotz aller Kritik sind die Diskussion um einen GND und damit verbundene Politiken wichtig, da es sich um den einzigen Strategieentwurf handelt, der die multiple Krise aufnimmt und sozial-ökologische Themen fokussiert.

Einzelne Vorschläge für progressive Krisenregulierungen und Entwicklungen darüber hinaus liegen auf dem Tisch und praktische Alternativen werden in einigen Bereichen durchaus umgesetzt. Die Vorschläge reichen von einer demokratischen Neuordnung der Finanzmärkte und ihrer Akteure, eines Umbaus des Kreditsystems, den Abbau von Kapitalmacht, einen Ausgleich der Leistungsbilanzdefizite über die Förderung von Wirtschaftsdemokratie, die Einführung bzw. Erhöhung einer Vermögens(zuwachs)steuer, Arbeitszeitpolitik und Grundeinkommen, eine grundlegende Umorientierung der europäischen Wirtschaftspolitik und den Aufbau einer Sozialpolitik, die den Namen verdient, bis hin zu grundlegend anderen Produktions- und Konsumweisen, einer Neuausrichtung des Bildungs- und Gesundheitssystems, die allgemeine Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge, auf Gerechtigkeit und Anerkennung zielende Geschlechter- und Migrationspolitik, ein verändertes Energiesystem und Maßnahmen gegen den Klimawandel – um nur einige zu nennen. Die Vorschläge finden jedoch kaum oder keine politische Umsetzung, da die gesellschaftlichen Kräfte, die sie fördern könnten, nicht vorhanden oder zu schwach sind. Das hängt aber auch damit zusammen, dass die politischen Institutionen selbst in den letzten 30 Jahren umgebaut wurden.

Insofern ist eine Perspektive defizitär, die sich angesichts der Krise auf eine schlichte Re-Regulierung der vermeintlich nur ökonomischen Globalisierung fokussiert. Ein Steuerungsoptimismus gegenüber den bestehenden politischen Institutionen würde negieren, dass diese am neoliberal-imperialen Umbau zentral beteiligt waren.

Daher geht es um eine Veränderung politischer Inhalte, institutioneller Strukturen und damit verbundener gesellschaftlicher Interessenartikulation und Kräfteverhältnisse. Damit zusammen hängt eine tiefgreifende Transformation gesellschaftlicher und politischer Orientierungen und Werthaltungen weg von einer die Natur zerstörenden und soziale Spaltung hinnehmenden Produktions- und Lebensweise.

Politische Institutionen (staatliche Apparate im engeren Sinne, Gebietskörperschaften, internationale Organisationen, teilweise auch öffentliche Unternehmen) sind hier wichtig, sie sind jedoch nicht die einzigen Mechanismen der Krisenbearbeitung. Es müssen auch nicht unbedingt neue oder parallele Institutionen geschaffen werden. Gleichwohl wird es notwendig sein, einige politische Institutionen wie die Welthandelsorganisation mit ihrer neoliberalen Konstitution zu schwächen.

Angemessene politische Entscheidungs- und Umsetzungsstrukturen hängen zum einen von gesellschaftlichen Faktoren ab, also von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und dominanten Orientierungen. Derzeit erleben wir eine Krisenregulierung von oben und im Interesse der ökonomischen und politischen Funktionseliten, weil die Organisationen subalterner Akteure (wie die Gewerkschaften) oder mit progressiver Orientierung zu schwach sind. Diese Interessen und Orientierungen finden also kaum Gehör. Viele progressive zivilgesellschaftliche Akteure, insbesondere NGOs bzw. Verbände, haben sich in den 1990er zunehmend Politiken verschrieben, die auf die direkte Beeinflussung von staatlichen und intergouvernementalen Institutionen zielten. Soziale Bewegungen waren in den Ländern des globalen Nordens eher schwach und konstituieren sich als globalisierungskritische Bewegung erst wieder seit etwa zehn Jahren. Paradigmatisch ist hier Attac. In Ländern des globalen Südens und insbesondere in Lateinamerika wurden progressive soziale Bewegungen bereits in den 1990er Jahren stärker und waren in manchen Ländern maßgeblich daran beteiligt, dass linke und linksliberale Regierungen bei Wahlen gewannen.

Die Ambivalenz der aktuellen Situation wird an den Gewerkschaften deutlich. Deren aktuelle Schwäche und politische Phantasielosigkeit sollte nicht zu dem einfachen Schluss führen, dass ihre Stärkung mit besseren Bedingungen für eine sozial-ökologische, demokratische und international ausgleichende Politik einhergeht. Sie sind tief verankert in der Wachstums- und Wettbewerbslogik. Und dennoch ist eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse in doppelter Weise relevant. Erstens könnten die Gewerkschaften (und Betriebsräte) sich bei ihrer Stärkung aus der Orientierung lösen, permanent „mit dem Rücken zur Wand“ zu stehen und weitergehende Perspektiven – etwa des sozial-ökologischen Umbaus – gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Und zweitens muss eine Einhegung von Kapitalmacht in vielen Bereichen stattfinden, um überhaupt den Spielraum für Alternativen zu öffnen.

Hinsichtlich der dominanten gesellschaftlichen Orientierungen müssen neue attraktive Lebensformen gefunden werden, die gerecht sind und gleichzeitig über die auf Disziplin, Wachstum und entpolitisierten Konsumismus basierende Lebensweise hinausgehen. Hier könnte eine Debatte über Arbeitszeitverkürzung in Verbindung mit anderen Lebensweisen neue Räume öffnen.

Zum anderen müssen lokale, nationale und internationale politische Institutionen selbst verändert werden, was nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen geschieht und für die je spezifischen Institutionen konkretisiert werden muss. Dies muss geschehen hinsichtlich:

  • der expliziten und impliziten Ziele der jeweiligen politischen Institution sowie ihrer Ressourcenausstattung;

  • institutioneller Logiken: welche Probleme werden wahrgenommen, welche Vorschläge als plausibel erachtet?

  • der Frage, wer in den Entscheidungsgremien sitzt? welche Interessen und Kräfte sind wesentlich repräsentiert?

  • der Transparenz und öffentlichen Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen.

Die Frage nach geeigneten politischen Entscheidungs- und Umsetzungsstrukturen muss also über eine Kritik und praktische Veränderung der bestehenden, für die multiplen Krisen mitverantwortlichen Strukturen erfolgen. Auf der politischen Ebene wäre das etwa die Zurückdrängung der unbedingten Wettbewerbslogik und die damit verbundenen Interessen sowie zunehmend autoritären Formen von Politik.

Daher muss der Steuerungsoptimismus gegenüber den politischen Institutionen hinterfragt werden. Die gegenwärtig dominanten Formen der Krisenregulierung sind nicht nur auf Bürokratie und Parteipolitik zurückzuführen, sondern sie sind Teil gesellschaftlicher Interessen und Machtverhältnisse. Die verschiedenen Institutionen stehen zudem in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander. Die größere Macht der Wirtschafts- und Finanzministerien im Vergleich zu Umwelt- oder Entwicklungsministerien liegt in der Bedeutung der Apparate für die Gesellschaft und dominanten Interessen begründet.

Kohärenzen zwischen Institutionen entstehen, wenn es gesellschaftliche Projekte gibt, welche die „Logiken“ der Institutionen orientieren und von politischen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Kräften getragen werden. Das war während der Nachkriegszeit der Fall und hier liegt der Erfolg des neoliberal-imperialen Projekts des Gesellschaftsumbaus begründet. Es handelte sich nicht nur um eine an mehr Markt orientierte Wirtschaftspolitik, sondern um ein Projekt gesellschaftlicher Transformation, das bis in die staatlichen Institutionen – in Form des New Public Management – reichte und bis heute reicht.

Das Projekt einer neuen, progressiven Transformation muss noch entstehen und zwar quer durch die Gesellschaft: in Parteien, Unternehmen, Medien, Gewerkschaften, NGOs, sozialen Bewegungen, Wissenschaft. Die Notwendigkeit einer umfassenden Transformation muss zudem dem Staatspersonal selbst plausibel sein. Auch die herrschenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Denkweisen – insbesondere der orthodoxen Wirtschaftswissenschaften – müssen verändert werden. Denn nur so können die Deutungen der Eliten unterlaufen werden, die auf eine Entmächtigung jener hinauslaufen, die von der multiplen Krise stärker betroffen sind. Kreativität und Lernprozesse – insbesondere zur Veränderung der imperialen Lebensweise – sind aber in allen gesellschaftlichen Bereichen notwendig.

Politisch wichtig werden dürfte in den kommenden Monaten und Jahren, inwieweit es – im Lichte unzureichender Krisenpolitiken – innerhalb der politischen und ökonomischen Eliten zu Dissensen kommt und mehr oder weniger alternativen Vorschläge gestärkt werden (einen Elitendissens formuliert etwas Stiglitz 2009, wenngleich es im Paradigma von Wettbewerbsfähigkeit und Freihandel verbleibt). Seitens herrschender Politik überwiegen derzeit noch Widerstände, wie etwa das G20-Treffen in Pittsburgh Ende September 2009 zeigte.

Inwiefern sich jedoch neue Allianzen bilden, muss sich im Verlauf der Krise zeigen und hängt von der strategischen Reflexion und Strategiefähigkeit spezifischer Akteure und Bündnisse ab. Anknüpfungspunkte gibt es, wenn die gegenwärtige Krise von den entsprechenden Akteuren als tiefgreifende Krise des fossilistischen Produktions- und Konsummodells und als Krise der neoliberal-imperialen Globalisierung anerkannt wird (vgl. zu alternativen Klima- und Energiepolitiken Brand/Bullard/Lander/Müller 2009). Entsprechend würden die aktuell dominanten Formen der Krisenregulierung als unzureichend zurückgewiesen werden. Die entscheidende Frage für progressive Politik ist also die Herausbildung einer neuen Produktions- und Lebensweise, die nachhaltig, solidarisch und demokratisch ist. Hier könnte ein „neuer Protektionismus“ (Wichterich 2009) bedeutsam werden, der zentrale gesellschaftliche Bereiche wie Ernährung, soziale Sicherheit oder öffentliche Güter vor den Finanzmärkten und den damit verbundenen Interessen schützt. Die Diskussion um Gemeingüter (commons) könnte hier an Bedeutung gewinnen (Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung 2009).

Ein wichtiger innergesellschaftlicher Ansatzpunkt wäre eine radikale Verkürzung der Wochenarbeitszeit und keine erzwungene Verlängerung der Lebensarbeitzeit. Mit Arbeitszeitverkürzung kann zum einen der aktuell herrschende Produktivismus (Produktion um jeden Preis) und Konsumismus (Geiz ist geil) hinterfragt und nachhaltige Produktions- und Konsumweisen gestärkt werden. Zum anderen bestünde mehr Spielraum für weitere Tätigkeiten neben der Lohnarbeit, eine Aufwertung unbezahlter Arbeit und entsprechend eine Hinterfragung des „Fetisch Lohnarbeit“. Drittens könnte es zu einer Aufwertung des Öffentlichen kommen gegen die Dominanz der privaten Märkte samt ihrer privaten KonsumentInnen. Wenn das Bedürfnis nach Mobilität mit öffentlichem Verkehr nachhaltig befriedigt wird, dann kann das höhere Lebensqualität bei weniger privatem Konsum bedeuten. Der vermeintliche Zwang zu Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit um jeden Preis könnte relativiert werden. Und schließlich könnte eine dringend notwendige Diskussion um die gesellschaftliche Umverteilung von Arbeit geführt werden: welche Tätigkeiten sind notwendig, wer soll sie ausführen (Frauen, Männer, Menschen mit Migrationshintergrund), wie sollen sie bezahlt und sozialversichert sein? Denn die herrschenden, weitgehend entfremdeten Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung bestimmen ja den Alltag der Menschen entscheidend mit und sind ein Hindernis auf dem Weg zu einer öko-sozialen Transformation.

Trotz der drängenden Probleme sollten die genannten und andere Aspekte den Horizont emanzipatorischer Veränderungen bilden. Das Projekt einer tiefgreifenden sozial-ökologischen Transformation müsste von politischen Institutionen, zusammen mit verschiedensten gesellschaftlichen Akteuren, voran getrieben und abgesichert werden.

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Textverweise

*1 Der Begriff der multiplen Krise, wie er etwa auch von Elmar Altvater verwendet wird, soll nicht suggerieren, dass es sich um eine Addition unterschiedlicher und weitgehend voneinander unabhängiger Krisendimensionen handelt. Aufgabe kritischer Analyse ist es gerade, die inneren Zusammenhänge herzustellen, ohne die Ungleichzeitigkeiten und Besonderheiten verschiedener Aspekte zu vernachlässigen.

*2 Die Expertise entstand 2009 im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, zur Bearbeitung folgender Fragen: Was wissen wir über den Zusammenhang verschiedener Krisen, über die Auswirkungen der Lösungsansätze und was bringt uns dieses Wissen? Welche politischen Entscheidungs- und Umsetzungsstrukturen und Institutionen werden zur Bearbeitung der multiplen Krisen benötigt?

*3 Die Bankenpakete von Herbst 2008 sollten die Banken selbst vor dem Ruin bewahren, die volkswirtschaftliche Stabilität und dabei insbesondere die nationalen wie internationalen Kreditflüsse sichern. Sie wurden in allen Ländern unter hohem Zeitdruck von wenigen Personen geschnürt. Aufgrund von Geheimhaltung wissen wir noch relativ wenig über die Bedingungen, die von den Regierungen im Rahmen der Bankenrettungen gestellt wurden. Es dürfte in zukünftigen Untersuchungen aber deutlich werden, dass die politischen Eliten den ökonomischen nicht allzu sehr schadeten.

*4 Aufschlussreich hierzu ist das Interview mit Josef Ackermann im „Spiegel“ 41/2009.

*5 Ich argumentiere stark vor westeuropäisch-nordamerikanischem Hintergrund. Die Krisenpolitiken in Ländern wie China, die auf eine Stärkung des Binnenmarktes abzielen, Brasilien oder Indien bedürfen gesonderter Analysen. Das gilt auch für Osteuropa, wo die Abhängigkeit von Kapitalimporten und der enorme Umfang an Fremdwährungskrediten eine besondere Rolle spielen (vgl. Becker/Jäger 2009).

*6 Uwe Hoering (2009) spricht in Analogie zum „peak oil“, also dem Punkt, an dem die geförderte Menge Erdöl die entdeckten zusätzlichen Vorräte übersteigt, von „peak soil“.

*7 Mit der Obama-Regierung in den USA scheint dieses Problem politisiert zu werden und die Umverteilung akzeptierende „establishment fraction“ (Volcker, Soros, Gates) scheint gegenüber der „oligarchic fraction“ (Bush, Greenspan) an Boden zu gewinnen (Wade 2009: 556). Allerdings halte ich die Situation für derzeit offen.

*8 Die zunehmenden globalen Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen und damit spezifischen Abhängigkeiten einzelner Volkswirtschaften und Währungsräume sind ein weiterer Faktor, der in der Krise relevant wurde (Wade 2009, Becker/Jäger 2009).

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Der Text wurde veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Brand.

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Beitrag editiert von Stefan Vicedom

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Soft Rains – 

„This Is Not Water“ - Konfliktzentrum Wasserkraft in Zeiten grüner Paradoxie

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Janosch Birkert

 

Seit Jahrtausenden versucht der Mensch Naturraum für sich nutzbar zu machen, ihn zu formen. Technologischer Fortschritt befähigt den Menschen seit einigen Jahrhunderten dazu, einen Großteil des Naturraums auf unserem Planeten zu kontrollieren und seine bestehende Natürlichkeit in einen ökonomischen oder sozialen Mehrwert umzuwandeln. Vielerorts führt dies zu neuen ökologischen Zuständen, welche neben einem vollständigen Verlust von Biodiversität, auch eine künstliche Natur sein kann. Wasserkraft ist ein Teil dieser Geschichte der natürlichen Ressourcennutzung durch den Menschen. In den vergangenen Dekaden erfuhr sie einen zunehmenden Ausbau und verändert weltweit Natur-Mensch-Beziehungen. Was tun in Zeiten, in denen lokales Handeln und globales Denken nicht mehr ohne einander zu betrachten sind? Hintergrund Im Jahr 2016 wurden weltweit Wasserkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 31,5 GW installiert. In Südamerika verdreifachte sich der Ausbau im Vergleich zum Vorjahr. Für diese Entwicklung sind unterschiedliche Treiber verantwortlich. Neben nationalen Interessen, dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit von internationalen Energiemärkten und dem Ausbau erneuerbarer Energien spielt insbesondere die Versorgungssicherheit für energieintensive Schwer- und Großindustrien eine große Rolle. Beispielhaft für diesen Zusammenhang wurden in Perus Minenregionen Großprojekte im Umfang von 1000 MW installiert.[1] Global werden jährlich ca. 4100 TWh Strom durch Wasserkraftwerke produziert, dies ist gleichzeitig der bisher größte Anteil durch erneuerbare Energien und entspricht einem Gesamtanteil von ca. 6,8 % am globalen Primärenergieverbrauch. Von 2005 bis 2015 wuchs die installierte Kapazität um 39%, was einem jährlichen Wachstum von 4% entspricht.[2] Die Internationale Energie Agentur, welche für ihre konservativen Prognosen im Bereich erneuerbare Energien bekannt ist), geht von einem Wachstum des Wasserkraftsektors bis 2025 um weitere 25% auf über 5.000 TWh, bis 2050 auf über 10.000 TWh aus.[3] Die Treiber Anfang der 2000er Jahre wurde der Ausbau von Wasserkraft insbesondere durch den Clean Development Mechanism begünstigt. Der „Mechansimus für Umweltverträgliche Entwicklung“ erlaubte internationalen Geberländern, Entwicklungsländer am globalen Klimaschutz zu beteiligen und gleichzeitig Energietechnologien zu exportieren oder „Best-Practice“-Projekte im internationalen Kontext zu finanzieren.[4] Der vereinbarte Mechanismus unterstützt Unternehmen der Industrienationen eine freiwillige Kompensation von Klimaleistungen durch den Ausbau von erneuerbaren Energien im globalen Süden. Die durch diese Maßnahmen vermiedenen Emissionen können dann durch eine mengenbezogene Bepreisung gehandelt werden – das sogenannte Offsetting. Auf diese Art und Weise können Unternehmen bis heute ihre unvermeidbaren Emissionen „klimaneutral“ schalten und ermöglicht eine Querfinanzierung von Umsetzungen diverser „Klimaschutzprojekte“ weltweit.[5] Wie auch in Peru werden insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent überteuerte Großprojekte im Bereich Wasserkraft umgesetzt. Diese intensiven Einschnitte in Ökosysteme, beispielweise dem Kongobecken, haben nicht etwa zum Ziel, die energetisch unterversorgte afrikanische Bevölkerung durch günstigen Strom innerhalb ihrer Wertschöpfung zu fördern, sondern international agierenden Minen- und Bergbauunternehmen eine permanente und stabile Energieversorgung bereitzustellen. Dies ist nicht nur eine Beschleunigung der exportorientierten Wertschöpfung im Land, sondern auch ein Treiber für wachsende globale Ungleichverteilung von Einkommen und Ressourcen, da der Großteil der Kongolesen weder durch Steuergewinn noch durch staatlich geförderten Aufschwung am Gewinn durch den Abbau oder die Nutzung ihrer natürlichen Ressourcen beteiligt wird. Das kongolesische Grand-Inga-Staudammprojekt wird nach Fertigstellung voraussichtlich doppelt soviel Strom produzieren wie der chinesische Drei-Schluchten-Staudamm. Auf dem afrikanischen Kontinent sind immer noch mehr als 600 Millionen Menschen ohne Zugang zum Stromnetz und gleichzeitig ein Großteil der Stromtrassen bereits in privater Hand. Gefördert wird dieser industriefreundliche Ausbau insbesondere durch Finanzierungsmechanismen rund um die internationale Zusammenarbeit und der Entwicklungshilfe.[6] Die Konflikte Die Nutzung von Wasserkraft führt weltweit zu verschiedenen Formen von Nutzungs- und Ressourcenkonflikten. Von geopolitisch großer Bedeutung sind meist transnationale Ober- und Unterliegerkonflikte,[7] in wasserarmen Regionen, die durch den Bau von Großwasserkraftanlagen zusätzlich unter Druck geraten.  Beispielhaft dafür steht der geplante Bau der „Renaissance“-Talsperre im Blauen Nil in Äthiopien. Dieser Bau hätte bedingt durch Verdunstung und den Rückhalt von Flussfracht (Sedimenten) Auswirkungen auf die ägyptische Landwirtschaft, die vollkommen vom Nil abhängig ist und deren Vulnerabilität in Zeiten starker Urbanisierung und Klimawandel steigen wird. Mit dem Bau dieser Talsperre versucht Äthiopien, seine Position in Ostafrika zu stärken. Stromerzeugung, landwirtschaftsfreundliches Bewässerungsmanagement und Hochwasserschutz waren hierbei die entscheidenden Argumente, die Staaten innerhalb des Einzugsgebietes Nil in einem Bündnis mit dem Namen „Nilbecken-Initiative“ (NIB) zusammenschließen. Bisher nicht beigetreten: Ägypten.[8] Ähnlich zugespitzt ist der Konflikt zwischen Tadschikistan und Usbekistan, rund um den Bau des Rogun-Damms. Dort spielen Baumwollproduktionen, energiepolitische Unabhängigkeit und eine unbedachte Bauplanung zu politischen Drohgebärden und diplomatischem Stillstand.[9] Neben den transnationalen politischen Konflikten, sind insbesondere die negativen Auswirkungen auf soziale und ökologische Zustände, im lokalen Kontext, welche durch den Bau von Wasserkraftanlagen entstehen können. Dort spielen die klassischen Nutzungskonflikte zwischen Landwirtschaft (Wasserspeicher für Trockenzeiten) und Wasserkraftbetreiber (Wasserrückhalt für Winterzeit wegen erhöhtem Energiebedarf) in Regionen mit etablierter Landwirtschaft die Hauptrolle, während es hingegen, insbesondere bei Großinfrastrukturprojekten, in Off-Grid oder strukturschwachen Regionen, zu einer Vielzahl an Konfliktlinien zwischen den jeweiligen Akteuren kommen kann. Aus sozioökonomischer Sicht ist die langfristige Teilhabe an der Wertschöpfung für lokale Communities oftmals nicht vorgesehen. Das Recht auf Wasser und lokale Mitbestimmung über die Nutzung von Wasserressourcen kann durch eine neoliberale Wasserpreisberechnung oder Gesetzgebung ausgehebelt werden. Eine ganzheitliche Bewertung von Umweltrisiken nach internationalem Standard und unter Berücksichtigung der lokalen Akteure und Key-Stakeholder ist vielerorts noch kein etabliertes oder transparentes Verfahren. Das bewusste Exkludieren lokaler Akteure und ökologischen Kriterien in Entscheidungsprozesse während der Planungsphase kann zu lokalen Protesten, sozialen Unruhen und Widerstandsbewegungen führen.[10] Ökologisch betrachtet kann Wasserkraft als klimafreundliche Energiequelle bezeichnet werden, doch kann sie im lokalen Kontext durchaus negative Auswirkungen auf die Ökosysteme, Biodiversität und Klima haben. Neben der Freisetzung von Methan, dem Verlust von Kohlenstoffspeichern durch Flutung von Waldflächen, haben (Groß-) Wasserkraftprojekte das Potential endemische Arten und einzigartige Ökosysteme verschwinden zu lassen oder sie durch negative Auswirkungen auf die Umwelt unter Druck zu setzen. Eine weitere Begleiterscheinung ist insbesondere der intensive Ausbau der Infrastrukturen in zuvor strukturschwachen Regionen. Der Bau des Tucurui-Damms in Brasilien hatte erhöhte Abholzungsraten in einem Gebiet von 1000 km2 rund um neue Wasserkraftanlage zur Folge, da der Ausbau des Straßennetzes im Zuge des Großprojektes eine ökonomische Bewirtschaftung von unberührten Waldgebieten ermöglichte.[11] Die Modelle Viele dieser lokalen Auswirkungen auf bestehende soziale, ökologische und sozial-ökologische Systeme sind in dem von Rockström et al. beschriebenen System der Planetary Boundaries wiederzufinden. Der Ansatz beschreibt die Grenzen der Belastbarkeit für das bestehende Erdsystem durch anthropogene Übernutzung, darunter der starke Einfluss des Menschen auf den natürlichen Wasserkreislauf.[12] Betrachtet man Wasserkraftgroßprojekte im Sinne des Anthropozän nach Crutzens „Der Mensch als geologische Kraft“ sind die weltweit errichteten Dämme und Eingriffe in natürliche Wasserkreislauf- und hydrogeologische Systeme durch Begradigung und Übernutzung in Ihrer Wirkung und Unumkehrbarkeit so immens, dass der vermeintliche natürliche „Urzustand“ vielerorts wohl unwiederbringlich verloren ist.[13] Doch wie die Brücke schlagen zwischen den lokalen und realen Ereignissen und den globalen Modellen und Szenarien? Nutzt man ein sozial-ökologisches System (SES)[14] zur Modellierung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Natur im Kontext der Wasserkraft, fällt schnell auf, dass sowohl Natur (Klimaschutz vs. Biodiversität) als auch Gesellschaft (Local Community vs. Wasserkraftbetreiber/Stromabnehmer) in einem bipolaren SES nicht darstellbar sind. Vielmehr stehen sich ökologische und gesellschaftliche Systeme untereinander konträr gegenüber. Skaliert man dieses Konfliktbild, ein multi-polares SES, von lokal zu global wird deutlich, dass hier ein Paradox vorliegt. Ökologischer und sozioökonomischer Mehrwert (Marktwert) auf globaler Ebene kann demnach einen Verlust sozialer und ökologischer (sowie sozial-ökologischer) Systeme im lokalen Kontext hervorrufen (Verlust Existenzgrundlage und Lebensqualität). Fügt man der multipolaren sozial-ökologischen Betrachtungsweise eine ökonomische Dimension hinzu, wird schnell klar, dass der Treiber für diese Ambivalenz eine marktbedingte Entwicklung der Energiemärkte und der gewinnorientierten Ausrichtung von Energieabnehmern ist. Eine ethische Dimension als Filter und Regulator ist nicht zu erkennen.[15] Sowohl Karl Marx (1867)[16] als auch Christophe Bonneuil (2015)[17] sehen nicht primär „den“ Menschen als Treiber für diese starke anthropogenen Überformung von Naturraum. Sie sprechen von einem „ungleichen (ökologischen) Tausch“ ausgehend von den wertschöpfungsgetriebenen Industriestaaten, durch die permanente Ausbeutung von Natur und Teilen Weltgesellschaft durch eine „kapitalistische Elite“. Denn klar ist, und deshalb ist die sozial-ökologische Perspektive so relevant für die Interpretation der anthropogenen Dominanz und deren Folgen auf dem Erdsystem, dass es neben dem unumkehrbaren Verlust an Naturraum der Mensch selbst ist, der unter seiner eigenen Dominanz leidet - in Zeiten „des Kapitalozän“?[18] Das Werk In ihrer Videoinstallation (Beitrag zur Ausstellung „There Will Come Soft Rains?“, Basis, Frankfurt am Main 2018) setzt sich Carolina Caycedo, die Künstlerin der Installation, mit dieser Entstellung der ursprünglichen sozio-hydrologischen Beziehung zwischen natürlichem Strom und gewinnorientierter Ressourcennutzung am Beispiel der Großwasserkraftanlagen in Südamerika auseinander. Sie erlaubt die Bändigung des Großen Flusses, dreht ihn, wendet ihn beliebig im Film, zähmt ihn, lenkt seine Kraft. Für den einen bildet diese Aufhebung der Natürlichkeit eine Harmonisierung und die Steigerung der Attraktivität ab, für den anderen Betrachter wirkt es wie eine Entstellung, wie das Vorzeigen einer falschen Naturgewalt, einer Naturgewalt, die nicht mehr von sich behaupten kann „nur“ noch Natur zu sein. – „This Is Not Water“.[19] Es scheint bei der Betrachtung von „This Is Not Water“, dass sowohl durch die Wahl des Stilmittels als auch durch die Inszenierung des Betrachtungsgegenstandes „Epoche der Künstlichkeit, in der Natürlichkeit kein Referenzpunkt mehr ist“, in den Fokus gerückt wird. Aber sind wir wirklich „nach der Natur“, wirklich im Anthopozän? Oder ist unsere Dominanz innerhalb des Erdsystems nicht vielmehr ein Teil der Natur, den sie im Laufe ihrer Entwicklung durch ihre resiliente Stärke korrigiert und in ihr Gedächtnis aufnimmt? „Nature after Nature“?[20] Selbst wenn wir Natur in ihrer vermeintlichen Reinform betrachten, sind doch wir es, die sie bewerten, aus anthropogener Perspektive. Kehren wir also zurück zu Marx (Pariser Manuskript 1844): „Die in der menschlichen Geschichte (...) werdende Natur ist die „wirkliche Natur“ des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, - wenn auch in „entfremdender“ Gestalt – wird, die wahre anthropologische Natur ist.“ Spät haben wir durch Wissenschaft und Philosophie eine säkulare Auffassung von Wetter- oder Naturphänomenen dem mythischen Verständnis entgegensetzen können. Heute müssen wir einen Schritt weiter gehen und akzeptieren, dass nicht nur physikalische Fremdbestimmung unsere Atmosphäre, unser Erdsystem beeinflussen, sondern dass wir es sind, die sich der „Sprache der Götter“[21] ermächtigten und sie nun sprechen lernen müssen.[22] Die anthropogene Überformung von Naturraum kann in vielen Modellen zum Ausdruck gebracht werden. Wichtig ist, dass der Mensch/die Gesellschaft in seinem Wirken auf Naturraum differenziert betrachtet und seine Wirkungskraft innerhalb des Erdsystems (positiver und negativer Impact) anerkannt und verstanden wird. Die Monetarisierung von ökologischem Verlust ist in seiner Bedeutung für unser Handeln immer noch nicht auf Augenhöhe mit den makroökonomischen Kennzahlen unserer Zeit. Schließen wir also mit einer Einschätzung des Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) aus dem Jahre 2011, 4 Jahre vor dem Pariser Klimaschutzabkommen, welches uns bei aller theoretischen Euphorie, auf die realpolitischen Handlungsmöglichkeiten zurückführt: „Die Wasserkraft wird nur geringfügig ausgebaut, da ihr nachhaltiges Potenzial begrenzt ist.“ Und nehmen wir uns vor, diesen Ausbau im Auge zu behalten, ihn ganzheitlich zu gestalten und ihn um eine Vielzahl von Betrachtungsmöglichkeiten zu erweitern.[23] Text: Janosch Birkert Editing: Dr. Felix Silomon-Pflug, Marcela Scarpellini   Titlebild: Carolina Caycedo, “Esto No Es Agua / This Is Not Water”, 2015 Film still 1 channel video HD, Sound and Color, 5’20’’, Sound: Daniel Pineda [1] Interntional Hydropower Association 2017 „Hydropower Status Report 2017“ S. 5, 42-48 https://www.hydropower.org/sites/default/files/publications-docs/2017%20Hydropower%20Status%20Report.pdf [2] World Energy Council 2016 „World Energy Resources 2016“ S. 16 https://www.worldenergy.org/wp-content/uploads/2016/10/World-Energy-Resources-Full-report-2016.10.03.pdf [3] International Energy Agency 2017 „Tracking Clean Energy Process 2017“ Energy Technology Perpectives 2017 Excerpt Informing Energy Sector Transformation S. 26 https://www.iea.org/publications/freepublications/publication/TrackingCleanEnergyProgress2017.pdf [4] Deutscher Bundestag 2016 „Clean Development Mechanism als Instrument der Entwicklungspolitik“ WF VIII – 025/2006 und WF II – 016/2006 https://www.bundestag.de/blob/415004/205d5d3d4a92205495ed17e6122f0773/wf-ii-016-06-pdf-data.pdf [5] Heute wird der Clean Development Mechanism vom Pariser Klimaabkommen langsam abgelöst, geht es jetzt doch um das Reduzieren und nicht um das Kompensieren. Zudem sind neue Standards welche den ökologischen und sozialen Mehrwert der Projekte berücksichtigen zu Marktstabilisatoren geworden. Insbosondere im Bereich der „unvermeidbaren Emissionen“ ist dieser Kompensationsmechanismus durchaus im Sinne des Pariser Klimaabkommens. [6] Aurélien Bernier 2018 „Strom für Afrika“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!5480793 [7] Konflikte zwischen den Ländern die im oberen Teil des Flusseinzugsgebietes liegen, mit den Ländern im unteren Teil, also stromabwärts [8] Habib Ayeb 2013 „Wem gehört der Fluss?“ Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!461436 [9] Régis Genté 2017 „Die große Mauer von Tadschikistan“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe https://monde-diplomatique.de/artikel/!5379125 [10] Marcela Palomino-Schalscha et al. 2016 „Contested Water, contested development: unpacking the hydro-social cycle of the Nuble River, Chile; S.889, 897; Third World Quarterly Vol. 37, No. 5, S. 883-901; http://dx.doi.org/10.1080/01436597.2015.1109436  [11] Luke Gibson et al. 2017 Trends in Ecology & Evolution, December 2017, Vol. 32, No. 12; Elsevier Ltd. https://doi.org/10.1016/j.tree.2017.09.007 [12] Rockström et al. 2009 „Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity“, Ecology and Society 14(2): 32 http://www. ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32/ [13] Skalak et al. 2013 „Large dams and alluvial rivers in the Anthropocene: The impacts of the Garrison and Oahe Dams on the Upper Missouri River“ Anthropocene 2 (2013) 51-64 [14] Hummel et al. 2011 „Social-Ecological Analysis of Climate Induced Changes in Biodiversity – Outline of a Research Concept.“ BiKF Knowledge Flow Paper Nr. 11, Februar 2011 http://www.bik-f.de/files/publications/kfp_nr-11_neu__71c3b9.pdf [15] Giovanni Frigo 2017 „Energy ethics, homogenization, and hegemony: A reflection on the traditional energy paradigm“ Energy Research & Social Science 30 (2017) 7–17, http://dx.doi.org/10.1016/j.erss.2017.06.030 [16] John Bellamy 2018 „Der Öko-Marx“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe, Juni 2018 [17] Christophe Bonneuil 2015 „Die Erde im Kapitalozän“ Le Monde diplomatique deutsche Ausgabe, November 2015 [18] Siehe Fußnote 16 [19] Carolina Caycedo 2015 „ESTO NO ES AGUA / THIS IS NOT WATER“,Film Installation [20] Hartmut Böhme 2017 „Aussichten der Natur“, Matthes & Seitz Berlin, S. 12-16 [21] nach Lukrez Siehe Fußnote 20 [22] Hartmut Böhme 2017 „Aussichten der Natur“, Matthes & Seitz Berlin, S. 12-16, 70 [23] WBGU 2011 „Welt im Wandel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu.de/templates/dateien/veroeffentlichungen/hauptgutachten/jg2011/wbgu_jg2011.pdf  
Soft Rains – 

Das Verschwinden der Bienen, oder: Die Singularität des Tieres
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Srećko Horvat

Am aktuellen Beispiel des „Bienensterbens“ beleuchtet der Essay des Philosophen Srećko Horvat das allgemeine Verhältnis zwischen Mensch und Tier.
Soft Rains – 

Spekulative Biologie
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Dr. Pinar Yoldas

In ihrem Vortrag erläutert die Künstlerin und Wissenschaftlerin Pinar Yoldas ihr Konzept der "Spekulativen Biologie"
Soft Rains – 

BE DAMED - CAROLINA CAYCEDO

In her practice between art and activism, Carolina Caycedo developed a corpus of works, that questioned the production and distribution of hydroelectricity, and the colonization of nature. In 2018 her work Esto no es agua, part of her research on the social and environmental effects of dams, was part of the exhibition "There Will Come Soft Rains" at basis e.V. in Frankfurt am Main.
Soft Rains – 

Der Untergang als Experimentalraum. Zukunftsvisionen vom Ende des Menschen
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Eva Horn

Der Text der Kulturwissenschaftlerin Eva Horn untersucht das Auftreten von Endzeitszenarien in unserer Gegenwart
Soft Rains – 

Hat die Zukunft eine Zukunft? Über die Rückeroberung eines Imaginationsraums

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Stephanie Metzger

In ihrem Beitrag folgt Stephanie Metzger dem Potenzial der Zukunft als einem kreativen Vorstellungsraum