Dekolonialisierung ist nicht immer nur eine Frage von Identität und Herkunft, sondern schließt in einem weiteren Sinne ebenso die Befreiung von Umwelt und Natur ein. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der globale Westen auch gegenwärtig noch starken Einfluss auf die Kulturen, Gesellschaften und Lebensräume lateinamerikanischer Länder ausübt. Die daraus resultierenden und sich überschneidenden Auswirkungen sind grundlegende Aspekte der künstlerischen Arbeit von Marcela Armas. Anhand von Installationen, handgefertigten technologischen Apparaten und Filmen erkundet sie die Mechanismen und Prozesse der De- und Reterritorialisierung.
TSINAMEKUTA
Die eigens für die Ausstellung konzipierte Arbeit TSINAMEKUTA (2018) ist in der Region Villa de la Paz, einer Gemeinde im Norden von San Luis Potosí in Mexiko, entstanden. Dort befinden sich die ländliche Bevölkerung und die traditionellen Dorfgemeinschaften in einem zunehmenden Kampf mit der expandierenden nationalen und transnationalen Bergbauindustrie. Neben mineralischen Rohstoffen wie Aluminium und Kupfer ist der hiesige Boden reich an Pyrrhotin, einem Stein, der für seinen starken Magnetismus bekannt ist und der aus dem einzigartigen magnetischen Feld dieser Region resultiert. Dieser Magnetismus wird durch einschneidende Veränderungen – wie etwa Temperatur und Druck – in die terrestrische Materie eingeschrieben und kann somit auch als Anhaltspunkt dienen, um geologische Schichten zu datieren. Der Stein wird so zur Spur einer terrestrischen Erinnerung. Der in der Mitte des Ausstellungsraumes auf einem Magnetometer platzierte Pyrrhotin stammt direkt aus einer Mine in Villa de la Paz und wurde von dort nach Frankfurt am Main transportiert. Das Magnetometer erzeugt ein Geräusch, welches sich jeweils in Abhängigkeit zum magnetischen Feld des Steines verändert. Ein im Nebenraum ausgestrahlter Dokumentarfilm verweist auf das Abbauverfahren des Materials und nimmt zugleich die nächste Station auf der Reise des Steines vorweg. Denn nach der Ausstellung wird er wieder an seinen Herkunftsort zurückkehren und dort Teil einer Zeremonie der Wixárika, welche als indigene Gemeinschaft in der Region Altiplano Potosino leben. Die akustisch dokumentierte Zeremonie wird abschließend durch eine magnetische Übertragung in dem Stein gespeichert, bevor er in den Boden zurückgelegt wird. In unmittelbarer Weise führt Armas mit ihrer Arbeit die Auswirkungen der Bergbauindustrie auf die kulturelle und soziale Lebenswelt in diesen Regionen vor Augen. „Die Bergbauindustrie hat die Beziehung der dort lebenden Gemeinschaften zu ihrem Herkunftsort verändert, da sie als Arbeitskräfte von eben jenem ökonomischen System vereinnahmt werden, das den von den Vorfahren als heilig betrachteten Ort entweiht“, erklärt Armas. In ihrem Werk beschäftigt sie sich also mit Fragen der Zugehörigkeit zu einem Herkunftsort, mit Erinnerung und Zeit, mit Beständigkeit und Veränderung, während sie dabei zugleich zwei Formen der Dokumentation und Interpretation von „Zeit“ verknüpft: die „geologische Zeit“ und die „menschliche Zeit“. Oder mit den Worten der Künstlerin gesprochen: „Die Ortsansässigen, die in gewisser Weise in die Bergbauindustrie involviert sind, wurden in dieses Projekt eingebunden, um einen sensiblen Raum zu schaffen, der es erlaubt, Werkzeuge und Möglichkeiten zu finden, die das Wesen jenes Geistes wiederbeleben, welcher jenseits der vorherrschenden ökonomischen Verhältnisse eine tiefergreifendere Verbindung mit dem Leben entstehen lässt.“